Thema Rückenschmerz ist auch was, womit wir uns bei uns in der Klinik wissenschaftlich
beschäftigen, komme später auch drauf, werde dazu noch einiges sagen. Prävalenz
von Rückenschmerz, es gibt hier unterschiedliche Angaben, hier eine deutsche Literaturstelle,
wenn Sie auf die Straße hinausgehen und fragen, haben Sie heute Rückenschmerz oder im Moment,
dann sagen in Deutschland ca. 40% ja. Wenn Sie fragen, hatten Sie im letzten Jahr Rückenschmerz,
dann sind es ca. 70% und wenn Sie fragen, hatten Sie schon einmal in Ihrem Leben Rückenschmerz,
dann sind es über 80%. Es gibt unterschiedliche Daten, Sie sehen Punktprävalenz, das heißt also
im Moment international zwischen 19 und 40%, ein Jahresprävalenz 40 bis 70% und Lebensprävalenz
eben zwischen 50 und 80%, die Zahlen in der Literatur. Es gibt erhebliche Schwankungen
international, wenn Sie beispielsweise nach England gehen und fragen, wie viel haben Rückenschmerz,
dann sind es deutlich weniger Menschen als bei uns, bei uns waren es 40%, es gibt Arbeit in England,
danach sagen es 16% und wenn Sie in Indien fragen, dann sind es vielleicht nur 2 oder 3%. Das komme
ich dann darauf, wie man das interpretieren kann oder worauf man das zurückführen kann. Die Genetik
kann es nicht sein, denn der Engländer unterscheidet sich nicht wesentlich vom Deutschen, auch die
Arbeitsbedingungen können es eigentlich zwischen England und Deutschland auch im Wesentlichen nicht
sein, kommen wir noch drauf. Sozialmedizinisch hat es natürlich enorme Auswirkungen, auch hier
wieder einige Studien, das führt dazu im englischen Sprachgebrauch unfit for work, also
arbeitsunfähig durch Rückenschmerz bis zu 24% der Männer, 20% der Frauen, Arbeitsplatzwechsel 4%
oder 2%, also Sie sehen, dass das insbesondere sehr hohe indirekte Kosten macht der chronische
Rückenschmerz durch eben Arbeitsunfähigkeit und weitere Maßnahmen. Hier weitere Statistiken, wenn
Sie schauen von 1983 auf 1990 hat die Zahl der Arbeitsunfähigkeiten bezogen auf 10.000 bei den
Männern von 1228 auf 1682 zugenommen, also ein Anstieg von 37% bei den Frauen 13%. Der Krankenhaus
Aufenthalt hat abgenommen, das liegt aber daran, dass insbesondere die Rehabilitation in Deutschland
hier diese Rolle übernommen hat und die Patienten mit Rückenschmerzen, wenige in den Akutkliniken
liegen, die orthopädischen Akutkliniken oder Unikliniken haben sich überwiegend als operative
Einheiten entwickelt und die Patienten, die eben nicht zu operieren sind, die Chroniker oder die
konservativ zu behandelten, landen eben zunehmend in der Reha und Sie sehen eben, dass Sie hier
allein von 1983 auf 91 in den alten Bundesländern eine Zunahme der stationären Reha, allein in der
Rentenversicherung von circa 80 auf 280.000 Fälle hatten, also eine enorme Ausweitung mit
natürlich auch enormen Konsequenzen an Kosten. Wie hat sich das Verständnis des Rückenschmerzes
verändert? Ich gehe mal noch eins weiter. Früher gab es ganz unterschiedliche Auffassungen, was den
Rückenschmerzen machen könnte. Dieses Bild hier zeigt Ihnen, hier oben können Sie es lesen, ein
Anti-Onanier-Corsett. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es ernstzunehmende Wissenschaftler, die der
Meinung waren, dass Onanieren nicht nur zu Schwachsinn, sondern auch zu Rückenschmerzen führen kann. Also
eine damals verbreitete Auffassung. Im 19. Jahrhundert kamen dann drei neue Hypothesen, wodurch es denn
zu Rückenschmerz kommen könne. Die erste Hypothese ist die spinale Ursache, dass also die Ursache des
Rückenschmerzes an der Wirbelsäule selbst zu suchen sei. Das ist eine Veränderung in der Interpretation.
Wenn Sie vorhin als Beispiel das Onanieren hatten, das hat mit der Wirbelsäule primär nichts zu tun.
Also Ursprung des Schmerzes und Wahrnehmung sind völlig auf unterschiedlichen Ebenen. Hier geht
man dann von aus Schmerz an der Wirbelsäule, Ursache an der Wirbelsäule. Es war eine neue Denkweise im
19. Jahrhundert. Die zweite Hypothese, die neu aufgetreten ist, ist Rückenschmerz und Trauma.
Dadurch, dass die Eisenbahnen in Europa auf dem Kontinent eingeführt wurden, hat man das erste
Mal die sogenannten Railway-Spine-Verletzungen beschrieben. Das heißt, Menschen, die mit der
Eisenbahn gefahren sind und danach Rückenschmerzen hatten, haben das auf die Eisenbahn zurückgeführt.
Das heißt, man hat erstmals Rückenschmerz als arbeits- oder berufsbezogen auch interpretiert und
damit natürlich auch durch die Einführung der Sozialversicherung als grundsätzlich erstattungsfähig
angesehen. Auch eine völlig neue Denkweise bis dato. Und die dritte Hypothese, man hat Betrue verordnet.
Auch was ganz Neues. Betrue oder überhaupt Ruhe wurde das erste Mal medizingeschichtlich zur
Behandlung und war nicht nur Krankheitsfolge, sondern therapeutischer Ansatz. Bis dahin nicht
bekannt. Ich komme dann darauf, dass da auch ein wesentlicher Fehler liegt. Gut. Wie kann man
Presenters
Prof. Dr. Wolfgang Fritz Beyer
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:29:59 Min
Aufnahmedatum
2003-02-06
Hochgeladen am
2018-06-28 12:54:07
Sprache
de-DE